Wie Achtsamkeit dich in deine Körpermitte führt

Im gegenwärtigen Moment verweilen, leichter gesagt, als getan.

Wie oft verpasst du die schönsten Momente deines Lebens, weil du dich mit deinen Gedanken und somit auch mit deinen Gefühlen in der Vergangenheit oder in der Zukunft befindest? Dabei wäre der Weg in die Gegenwart, zumindest theoretisch, gar nicht schwer.

Zum einen kannst du die Verbindung mit deinem Atem von Augenblick zu Augenblick neu eingehen. Den Fluss deines Atems ganz bewusst in den Fokus deiner Aufmerksamkeit bringen. Denn schließlich fließt dieser nicht in der Vergangenheit oder in der Zukunft.

Zum anderen unterstützen dich deine Körperempfindungen dabei, eine bewusste Verbindung zum „Jetzt“ aufzunehmen. Körper und Geist sind nicht voneinander zu trennen. Wenn du dich auf körperliche Dinge wie den Atem konzentrierst, kannst du deinen Geist beruhigen. Bist du mental in Aufruhr, reagierst du gleichzeitig körperlich. Dann liegt dir vielleicht etwas „im Magen“, geht dir „an die Nieren“ oder sitzt dir „im Nacken“.

Ein gutes Gespür für den eigenen Körper und ein liebevolles Verhältnis zu all seinen Eigenheiten, Vorzügen und Schwächen ist deshalb von großer Bedeutung für dein Wohlbefinden.

Dein Körper bietet in jedem Moment zahllose Eindrücke. Dein Herz pumpt Blut, dein Magen arbeitet, Luft und Kleidung berühren deine Haut. Wie oft jedoch nimmst du diese Vorgänge und Empfindungen bewusst war?

Eine sehr hilfreiche Übung der Achtsamkeit besteht darin, deinen Körper bewusst wahrzunehmen. Dir Zeit zu nehmen, um ein paar Sekunden Inne zu halten und Kontakt mit deinem Körper aufzunehmen bzw. zu erforschen, was gerade in ihm passiert.

 

Dir deiner Mitte bewusst werden.

Eine für mich sehr wirksame Übung der informellen Achtsamkeitspraxis besteht darin, mir meiner Mitte bewusst zu werden, diese zu fokussieren und zu halten.

Diese Übung hilft mir dabei, im „stürmischen“ Alltag immer wieder Stabilität und Ruhe zu finden. Sie schenkt mir die Möglichkeit, mich immer wieder mit dem gegenwärtigen Moment zu verbinden und dessen Kraft zu nutzen. Je stabiler ich in meiner Mitte stehe, desto klarer zeigt sich der nächste Lebensschritt.

Wie bereits beschrieben geht es in dieser Übung darum, dass du dir deines Schwerpunkts bewusst wirst. Dieser ist in der Mitte deines Unterbauchs lokalisierbar. Etwa vier Zentimeter unterhalb des Nabels und in der Mitte zwischen der vorderen Bauchwand und der Wirbelsäule. In den Kampfkünsten wird dieser Schwerpunkt als Hara (japanisch) oder Dantien (chinesisch) bezeichnet.

 

Deine Aufmerksamkeit auf deinen Schwerpunkt lenken.

Immer wenn dein Geist abschweift, lenkst du deine Aufmerksamkeit wieder zu deinem Schwerpunkt zurück. Versuche alle körperlichen Aktivitäten von diesem Punkt in deinem Körper ausgehen zu lassen. Ob du nach etwas greifst, ob du gehst, dich beugst usw. Du könntest selbst auf diese Weise Gemüse schneiden. Dabei lässt du jeden Schnitt des Messers vom Hara ausgehen und von dort in den Arm, in die Hand und in das Messer hinabfließen. Bis dieser bewusste Energiefluss durch das Gemüse hindurch gleitet.

 

Im Alltag verankern.

Um diese Übung im Alltag zu verankern, kann es hilfreich sein, für feste Erinnerungen zu sorgen. Dies kann ein Notizzettel mit dem Wort „Schwerpunkt“ an geeigneter Stelle sein oder auch das Bild von einem Körper mit einem roten Punkt auf dem Unterbauch, der das Hara darstellt.

 

Der Puppenspieler im Kopf verliert mehr und mehr an Bedeutung.

Für gewöhnlich leitest du Handlungen von deinem Kopf aus ein. Dein Geist befielt deinen Armen und Händen zuzugreifen und etwas aufzunehmen, was du benutzen oder essen möchtest. Dein Körper ist etwas passiv und wartet auf den Puppenspieler in deinem Kopf, damit dieser an den Fäden zieht und dich in Aktion setzt.

In der Zen-Praxis und in den Kampfkünsten werden die Schüler instruiert, sich auf dynamische und integrierte Weise zu bewegen, indem sie sich ihres Schwerpunkts (dem Hara) bewusst werden. Sie lassen jede Aktion von diesem imaginären Punkt ausgehen.

Diese Fokussierung auf dein Zentrum ist der Gegenstand dieser Übung. Wenn du aus einem Sessel aufstehst, ist es das Hara, das aufsteht. Der Rest des Körpers folgt dieser Bewegung. Wenn du gehst ist es, als bewegt sich das Hara gleichmäßig vorwärts. Die Beine folgen dieser zentrierten Vorwärtsbewegung bzw. führen diese aus. Du kannst auch auf das Hara fokussiert stehen, wobei die Knie leicht gebeugt sind und du das Gewicht gleichmäßig auf beide Beinen verteilt hast.

Beim Sport benutzen wir sehr häufig unbewusst diesen Schwerpunkt. Ein Tennisspieler der auf einen Aufschlag wartet, beugt sich nach vorne. Sein Ziel ist es, den Schwerpunkt tief zu halten, um zum einen stabil zu stehen und gleichzeitig schnellstmöglich reagieren zu können. Gleiches ist bei einem Fußballspieler während des Dribblings zu beobachten. Bei beiden entspringt ihre Geschwindigkeit, ihre Flexibilität und ihre Beweglichkeit diesem Zentrum. Ein Golfspieler lässt seinen Körper um dieses Zentrum kreisen, wenn er seinen Schwung ausführt. Das Kanu- oder Kajakfahren braucht viel weniger Kraft, wenn das stoßen und ziehen des Paddels vom Hara ausgehen.

 

Der Geist wird ruhiger, konzentrierter und das Bewusstsein erweitert sich.

Menschen, die diese Achtsamkeitsübungen praktizieren bemerken oft, dass sie über mehr Stabilität, ein besseres Gleichgewichtsgefühl und mehr körperliche Kraft verfügen. Sie entdecken auch, dass das Ruhen im Hara Einfluss auf den Geist hat. Er wird ruhiger, konzentrierter und das Feld der Bewusstheit erweitert sich.

So kann es sein, dass du in einer Konferenz sitzt und dich in eine hitzige Diskussion verwickelt hast. Wenn du genau in diesem Moment deine Aufmerksamkeit in deine Mitte absinken lässt, dann kannst du mehr von dem bemerken, was im gesamten Raum vor sich geht.

Du wirst dir all der Menschen in diesem Raum bewusst, des Geräusches einer tickenden Uhr oder des nervösen Hustens eines anwesenden.

Wenn wir lange genug üben, die Achtsamkeit auf das Hara gerichtet zu halten, stellen wir oft fest, dass dies eine stabilisierende Wirkung auf unsere Gefühle hat. So kann zum Beispiel eine schwierige auftretende Emotion, wie etwa Zorn, schneller erkannt und benannt werden. Dieses Benennen gibt uns die Möglichkeit, Bewusstheit über die gegenwärtige emotionale Situation in uns zu erlagen. Durch diese Identifikation können wir selbst entscheiden, welchen Blickwinkel wir im gegenwertigen Moment wählen.

Wenn wir im Hara ruhen, dann sind wir vergleichbar mit einem Stehaufmännchen, welches in seinem Unterleib ein Gewicht hat. Man kann es zur Seite kippen oder umstoßen, aber es wird immer zurückschnellen und sich wieder aufrichten.

 

Der oft schwierigste Weg führt vom Kopf ins Herz.

Fragt man Menschen, wo in ihrem Körper sie sich befinden, dann werden in unserer Kultur die meisten auf ihren Kopf zeigen. In asiatischen Ländern zeigen die Menschen eher auf ihre Brust (das Herz) oder auf ihren Bauch.

Die Körpermitte ist für die Japaner etwas sehr Wichtiges. Sie haben viele Redewendungen, die sich darauf beziehen, etwa hara no hito (wörtlich: „Hara-Mensch“), womit eine Person charakterisiert wird, die Mut, Integrität, Entschlossenheit, Willensstärke und einen guten Charakter besitzt. Im Gegensatz dazu bezeichnet hara-ga nai (wörtlich: „kein Hara vorhandne“) einen Menschen, der keinen Mut und keine Entschlossenheit besitzt. Hara-ga okii ist eine Person mit einem großen Hara, jemand, der großzügig, mitfühlend und offenherzig ist. Hara-o suete bedeutet, ein „gesetztes“ Hara zu haben, also ruhig und beständig zu sein.

Das Hara ist zwar kein körperliches Organ, aber es ist ein energetisches Zentrum, das mit fortgesetzter achtsamer Aufmerksamkeit gestärkt werden kann, bis es mit der Zeit zu einer physisch spürbaren Eigenschaft, einer starken Präsenz wird. Viele Zen-Meistern und tief in ihrer Praxis verwurzelte Lehrer haben eine solche Hara-Kraft entwickelt, dass es sich anfühlt, als säße ein großer Felsblock mit einem im Zimmer.

 

Die Achtsamkeitspraxis als Wegweiser in den gegenwärtigen Moment.

Beim Praktizieren von Achtsamkeitsübungen beruhen vieles darauf, die Aufmerksamkeit aus dem Kopf und den Gedanken heraus in den Körper zu verlagern. Unsere Gedanken bekommen den gegenwärtigen Augenblick niemals zu fassen, da der gegenwärtige Moment ein Augenblick reiner physischer Empfindung ist.

Nehmen wir zum Beispiel an, du siehst einen Sonnenuntergang voller leuchtender Farben. Sobald sich ein Gedanke darüber bildet, bist du bereits einen Sekundenbruchteil von der reinen Wahrnehmung entfernt. Wenn du denkst „oh, was für ein wundervoller Sonnenuntergang! Gleich dem, welchen ich letztes Jahr am Meer gesehen haben!“, dann befindest du dich nicht mehr in der bloßen Erfahrung von Farbe und Licht. Der Geist hat sich bereits von der Erfahrung entfernt, um das, was du siehst, einen „Sonnenuntergang“ zu nennen und um Gedanken sowie Erinnerungen und Vergleiche mit einem anderen Sonnenuntergang hervorzubringen.

Die Gedanken sind jedoch nicht annähernd so erfreulich wie die ursprüngliche Erfahrung des plötzlichen Anblicks der leuchtenden Farben am Himmel. Tatsächlich können die Gedanken über den Sonnenuntergang sogar ziemlich störend sein. Sie können dich von der natürlichen Freude an der bloßen Wahrnehmung der leuchtenden Farben trennen.

 

Denken erzeugt eine Kluft zwischen dir und den Dingen.

Diese Kluft zwischen dir und den Dingen, das Gefühl, dass du irgendwie in Watte gepackt bist, dass du die Dinge nicht direkt erfährst, ist für einen Großteil deiner Unzufriedenheit mit dem Leben verantwortlich. Sie ist auch der Grund dafür, dass die Leute versuchen, die Intensität aller Dinge noch zu verstärken. Angefangen bei der Salzigkeit von Kartoffelchips über den Koffeinkick verschiedene Getränke, bis zur Lautstärke der Auto Stereoanlage.

Die Kluft zwischen uns und allen anderen lässt sich nicht dadurch schließen, dass wir Intensität zu unserem Leben hinzufügen. Es ist unser unablässiges Denken, welches die Lücke erzeugt. Wenn wir unsere „Operationszentrale“ von unserem Geist in unserer Hara verlagern, geschieht etwas. Unwesentliches Denken beruhigt sich, unser Bewusstsein öffnet sich und das unangenehme Gefühl einer Kluft zwischen uns und allen anderen löst sich auf.

Gerade jetzt geht ein Moment vorbei.
Wir müssen dieser Moment sein.
(Paul Cézanne)

Ich möchte dich herzlich dazu einladen, diesem Praxisimpuls zu folgen.
Aus eigener Erfahrung kann ich dir sagen, es wirkt.

Wenn du tiefer in die Achtsamkeitspraxis eintauchen möchtest, empfehle ich dir einen „Tag der Stille“ zu besuchen. Hier ist es dir möglichen einen Tag im Schweigen zu verbringen, an welchem die wichtigsten Achtsamkeitspraktiken angeleitet werden.

Von Herzen wünsche ich dir viele zentrierte Momente.

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